Echte Freiheit ist unscheinbar. Sie gibt es nur im Zustand maximaler Offenheit. Ein kalter
Morgen an einem hundsgewöhnlichen Wochentag: Ein junger Mann stellt sich an eine U-Bahn-Haltestelle und spielt Geige. Er hat seinen Geigenkasten geöffnet, ein paar
Münzen liegen schon drin. So wie es jeden Tag in jeder Stadt geschieht. Mit seiner Baseball-Kappe auf dem Kopf spielt er eine Dreiviertelstunde lang klassische Musik. Sechs Stücke insgesamt. 1097 Menschen gehen an ihm vorbei. Sieben von ihnen blieben kurz stehen, bevor sie weiterhasten. 27 werfen Münzen im Wert von insgesamt 32 US-Dollar in den Geigenkoffer. Irgendwann kommt eine junge Frau mit einem dreijährigen Kind an der Hand vorbei. Der Junge schaut den Geiger mit großen Augen an. Er will stehen bleiben, aber seine Mutter zerrt ihn vorwärts. Sie scheint in Eile zu sein. Beim letzten der sechs Stücke bleibt eine Frau stehen und stellt sich direkt vor den Geigenkasten. Dann kommt ein breites Grinsen auf ihr Gesicht, das sie nicht mehr loslässt, bis das Stück zu Ende ist.
Sie applaudiert, als einzige von 1097 Menschen. „Ich habe Sie vor drei Wochen gesehen, drüben in der Kongress-Bibliothek bei Ihrem freien Konzert. Sie waren fantastisch! Unglaublich, dass Sie hier spielen! Oh, mein Gott! So etwas kann einem nur in Washington passieren!“ Sie hatte den Musiker erkannt: Joshua Bell, einer der besten und berühmtesten Violinisten unserer Zeit. Seit der Spielzeit 2011/2012 leitet er eins der bekanntesten Kammerorchester der Welt, die Academy of St. Martin in the Fields in London. Was die Frau aber nicht erkannt hatte: Während Bell spielte, zeichnete eine Videokamera das komplette „Konzert“ auf. Es war ein Experiment der Washington Post.
Bell spielte sechs der berühmtesten und schwierigsten Stücke, die man auf einer Violine spielen kann. Und zwar auf einer der klangvollsten und teuersten Instrumente, die es gibt: eine Stradivari im Wert von 3,5 Millionen US-Dollar. Um das einmal zu hören, geben tausende Menschen sonst 100 Dollar aus. Hier gaben über 1000 Menschen zusammen 30 Dollar aus. Normalerweise erhält Joshua Bell stehende Ovationen. In der U-Bahn applaudierte eine Frau. Und auch nur, weil sie ihn erkannt hatte. Wer frei ist, der ist offen für Neues. Wie frei sind wir aber, wenn wir die herausragende Schönheit von Musik nicht mehr wahrnehmen können? Wenn wir nicht offen genug sind, um einen der besten
Künstler unserer Zeit wahrzunehmen? Auf dem Video kann man sehen, wie engagiert und faszinierend Bell gespielt hat. Selbst ein Laie kann die außerordentliche Qualität nicht überhören – vorausgesetzt, er achtet darauf. Aber wir sind nicht frei dafür. Freie Menschen hätte der Geiger verwirrt. So wie das dreijährige Kind, das noch genügend Freiheit in sich hatte. Ich bin überzeugt: Echte Freiheit bedeutet nicht, sich ein Cabrio zu kaufen, oben offen und vorne mit Airbag und Knautschzone zu fahren. Echte Freiheit ist unscheinbar. Sie gibt es nur im Zustand maximaler Offenheit. Und der Zustand maximaler Offenheit ist auch der Zustand maximaler Verwirrung. Wenn nichts mehr fest ist, wenn wir alle Dinge in Frage stellen, auch die, die wir zuvor nie in Frage gestellt hätten. Wirklich frei sind wir erst, wenn wir lernen das Unerwartete zu erwarten, die Verwirrung zuzulassen, im Leben unterwegs zu sein wie Kolumbus auf dem Ozean: Nicht wissen, wo man ist, nicht wissen, wohin man fährt, und wenn man ankommt, nicht wissen, wo man ist. Und trotzdem Großartiges tun!
zitiert u.a. von Hermann Scherer